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Die Linke und der Staat Infrarot 224

Vom Nationalismus und Internationaler Solidarität

Ob Eiffelturm, Brandenburger Tor oder Kolosseum. Ganz Europa leuchtet momentan in blau und gelb – den Nationalfarben der Ukraine. In Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und ihrem Leiden unter der russischen Aggression haben sich zahlreiche Menschen, darunter auch viele Linke, für die Souveränität und territoriale Integrität des ukrainisches Nationalstaates lauthals stark gemacht.

Es dürfte wohl vielen klar sein, dass ein beträchtlicher Teil der russischen Bevölkerung diesen Krieg ablehnt. Und doch ist dieser anachronistisch anmutende Konflikt ein weiterer trauriger Zeuge für einen Kampf einer Elite, der auf dem Rücken der Arbeiter*innen ausgetragen wird. Wir haben uns gefragt, wie sich die Linke in diesem Spannungsfeld zwischen internationaler Solidarität und nationaler Souveränität traditionellerweise positioniert und ob es so etwas wie linken Nationalismus geben kann.

Im Wesentlichen fabriziert der Nationalismus eine gemeinschaftliche Identität, die letztendlich arbiträr und häufig widersprüchlich ist.

Im 19. Jahrhundert entstand in Europa ein breitflächiger Nationalismus, der typischerweise den Studierenden-Bewegungen entquoll, welche die Nationalstaatsidee propagierten und an ein Gefühl der nationalen Zugehörigkeit und Solidarität appellierten. Als Produkt der sozialen Umordnung entstanden Verfassungen und Gesetzesnormen, die klar definierten, wer zur Nation gehörte und wer nicht.

Im Wesentlichen fabriziert der Nationalismus eine gemeinschaftliche Identität, die letztendlich arbiträr und häufig widersprüchlich ist. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit einer konstruierten Gemeinschaft muss aber nicht zwingend negativ sein. Aus einer gezielten Errichtung von kollektiven Identitäten kann Solidarität und Kooperation hervorgehen. So wurden in der Schweiz aus Katholiken und Reformierten Schweizer*innen. Auch sprachlich-kulturelle Gräben konnten so zumindest teilweise zugeschüttet werden. Nationalstaaten waren also gewissermassen Wegbereiter für lokale Konfliktbewältigung, technologischen Fortschritt und auch gewisse soziale Reformen durch verstärkte Kooperation und Spezialisierung.

Während der Dekolonisation war der Nationalismus ein wichtiges Mittel, um sich als Einheit gegenüber den Kolonial- und Imperialmächten zu behaupten und Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit einzufordern. Von linker Theorie inspiriert kämpften Befreiungsbewegungen zusätzlich oft für eine Befreiung im marxistischen Sinne. Sinnbildlich hierfür steht die vietnamesische Befreiungsbewegung, die sich während des Vietnamkriegs zunächst gegen die Kolonialmacht Frankreich und später gegen die imperialistischen und antikommunistischen Interessen der USA verteidigen mussten und dabei den Kampf für nationale Unabhängigkeit und eine sozialistische Gesellschaft verband.

Aber wie verträgt sich das alles mit linker Ideologie, die ja typischerweise international denkt? Zwar herrscht innerhalb der Linken ein breiter Konsens darüber, dass Sozialismus immer auch international gedacht werden muss und dass Klassen, und nicht Nationen, die massgebenden kollektiven Identitäten sind. In konkreten Fällen wurde von linker Seite aber immer wieder ein erstaunlicher Pragmatismus an den Tag gelegt und es wurde der «Kommunismus in einem Land» einer risikoreicheren Weltrevolution vorgezogen.

Es stellte sich wiederholt die Frage, ob eine linke Revolution innerhalb eines Staates tatsächliche Solidarität erzeugen kann, die über die Landesgrenzen hinausgeht oder ob Nationalismus dieser nicht vielmehr im Weg stehe. Denn ein Merkmal des Nationalstaates ist, dass er auf kultureller und räumlicher Exklusion basiert. Die Nation wird ex negativo definiert: «Wir sind das, was die anderen nicht sind.» Eine solche Spaltung stehe einem Klassenbewusstsein und der damit einhergehenden Emanzipation im Weg, wurde immer wieder vorgebracht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Internationale Solidarität weiterhin von der Mehrheit der Linken gross geschrieben wird. Sie wird einem engstirnigen Nationalismus, der lediglich für die Arbeiter:innen diesseits der Landesgrenzen einsteht, grundsätzlich vorgezogen. Allerdings sollte diese Solidarität auch stets den Kampf gegen jegliche Form von Imperialismus und somit das Recht auf nationale Unabhängigkeit mit einbeziehen und einfordern. Denn, wie Engels sagte: «Ein aufrichtiges internationales Zusammenwirken der [europäischen] Nationen ist nur möglich, wenn jede dieser Nationen im eigenen Haus vollkommen autonom ist.» (Engels, 1892)

(geschrieben von Gian Caduff und Diego Loretan)

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