Der wahrscheinlich kleinste Impfstoffhersteller der Welt
Die gute Nachricht: Das kubanische Gesundheitssystem funktioniert auch in einer grossen Gesundheitskrise hervorragend. Kuba ist der kleinste Staat, der eine COVID-Impfung selbst entwickelte – eine Aufgabe, die nur wenigen Staaten gelang. Die schlechte Nachricht: Kuba hat keine andere Wahl, als dass sein Gesundheitssystem funktioniert.
Viele Ärzt*innen, schlecht verteilt
Als Fidel Castro, Ernesto ‘Che’ Guevara und die revolutionäre Bewegung des 26. Juli 1959 die Macht auf Kuba übernahmen, übernahmen sie ein verhältnismässig gutes Gesundheitssystem: Ende der 1950er hatte Kuba relativ zur Bevölkerung die höhere Anzahl Ärzt*innen als Grossbritannien und eine tiefere Kindersterblichkeitsrate als mehrere westeuropäische Staaten. Dieses System war jedoch wie die vorrevolutionäre Wirtschaft ungerecht, denn die meisten Ärzt*innen lebten in den Städten, die Landbevölkerung blieb medizinisch unterversorgt. Kurz nach der Revolution flüchtete dann die aufgeschreckte bürgerliche Oberschicht von der Insel – darunter rund die Hälfte aller Ärzt*innen. Die USA verhängten eine Wirtschaftsblockade gegen Kuba und organisierten eine konterrevolutionäre Militäroperation. Eigentlich schlechte Prognosen für jede Revolution – es sei denn, sie hat mit Ernesto ‘Che’ Guevara nicht nur einen kampferfahrenen Guerillero in den eigenen Reihen, sondern auch einen ausgebildeten Arzt mit einer politischen Vision.
Revolutionäre Medizin
Guevaras Vision der Revolutionären Medizin beinhaltete die grossflächige und kostenlose medizinische Versorgung aller Menschen, Forschung und Lehre in der medizinischen Prävention und die Bildung der breiten Bevölkerung in Sachen Gesundheit und Hygiene. In den letzten 60 Jahren entwickelte Kuba ein Gesundheitssystem, das regelmässig durch die WHO als vorbildlich gelobt wird aufgrund der Zugänglichkeit und Qualität der medizinischen Leistungen, dem hohen Stellenwert von Gesundheitsthemen in der Politik, dem sozialen Engagement der Ärztinnen, dem Einbezug der Patientinnen in medizinische Entscheide und den Erfolgen in medizinischen Kennzahlen wie Impfraten, Kindersterblichkeit oder Lebenserwartung.
Heutige Kubaner*innen gehen nicht zur Ärzt*in, die Ärztinnen kommen zu den Menschen: Erste Anlaufstellen sind die Familienärzt*innen. Diese sind strategisch in jedem Dorf und jedem Quartier verteilt und machen mehr als nur Symptombekämpfung. Sie sind sozial in ihr Quartier eingebettet, besuchen jede Familie einmal pro Jahr und arbeiten mit Bevölkerung und Verwaltung zusammen, um Gesundheitsrisiken in ihrem Quartier zu erkennen und die Hygiene zu verbessern. Leichte bis mittlere Behandlungen werden in regional verteilten Polikliniken durchgeführt, unter Einbezug von Spezialist*innen, während die Spitäler in den Grossstädten für schwere Fälle vorgesehen sind. Trotz dieser engmaschigen Versorgung, ist Personalmangel auf Kuba ein Fremdwort – statistisch gesehen kommt auf 170 Einwohnerinnen eine Ärzt*in – globaler Spitzenwert.
Nebenwirkungen des Embargos
Jedoch hat das kubanische Gesundheitssystem mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Medizin ist knapp, Geräte sind selten und oftmals veraltet. Die Behandlung ist zwar für alle kostenlos, faktisch können viele Behandlungen jedoch nur durchgeführt werden, nachdem die Patient*innen Medikamente selbst organisiert haben. Dem kubanischen Staat mangelt es chronisch an Geld und selbst wenn er welches hätte, verunmöglicht es das US-Embargo, dieses effizient für den Gesundheitssektor auszugeben. Seit 2000 sind zwar Medizingüter von der Handelsblockade ausgenommen, jedoch machen die Finanzsanktionen die Bezahlung dieser Güter zu einem mühseligen Prozess, denn viele Banken weltweit verweigern, in vorauseilendem Gehorsam, Transaktionen mit Kuba, auch wenn sie nicht unter US-Jurisdiktion fallen. So sind Medikamente mit US-Patenten praktisch unmöglich zu bekommen. Kubanische Ärzt*innen müssen viel Improvisationstalent aufbringen: So werden Knochenbrüche auch mal mit Pappmaché gegipst, Krücken und Prothesen aus Altmetall geschweisst und die modernste Analysesoftware läuft halt irgendwie auf Windows 95. So verwundert es nicht, dass Kuba seit Jahrzehnten auf Eigenentwicklungen in der Impfstoffproduktion setzt; es hat keine andere Wahl, will es die Bevölkerung immunisieren.
Medizinischer Internationalismus
Trotz, oder vielleicht gerade wegen dieser Erfahrungen, sind kubanische Ärzt*innen in der ganzen Welt solidarisch unterwegs. Kuba entsendet seit Jahrzehnten jährlich tausende Ärzt*innen in andere Staaten des globalen Südens, sei es als permanente Hilfsmissionen oder kurzfristige, humanitäre Hilfe. Das besondere an kubanischen Ärzt*innen ist, dass sie dorthin gehen, wo niemand sonst hingeht – Bürgerkriegsgebiete oder andere isolierte, von der Weltgemeinschaft ausgeschlossene Staaten, wie Venezuela, Westsahara, Syrien oder der Iran. Diese Zusammenarbeit bringt allen Akteuren Vorteile und findet auf Augenhöhe statt: Kuba lässt sich die Leistungen mit Öl aus Venezuela oder dringend benötigten Devisen bezahlen. Die Zielländer bekommen die medizinische Hilfe, die ihnen der Westen verweigert. Und die Kubaner*innen im Einsatz senden ihren Familien im Ausland eingekaufte Güter, die wegen des Embargos sonst nicht auf die Insel kommen.
Die lange Erfahrung mit Isolation und Mangel hat das kubanische Gesundheitssystem zäh gemacht. Auch wenn es auf der ganzen Insel nur ein Spektrometer gibt, haben die Kubaner*innen zwei COVID-Impfstoffe entwickelt, die nach klinischen Tests eine Schutzwirkung von 92% aufweisen und nun bereits in den Iran und nach Vietnam exportiert werden. Auch mit der nächsten Gesundheitskrise werden die revolutionären Ärzt*innen fertig werden.