Warum Neoliberale Produktionsverhältnisse krank machen
Die Zahl psychischer Erkrankungen in westlichen Gesellschaften steigt seit Jahrzehnten an. Besonders junge Leute sind zunehmend von Angststörungen, Depressionen und psychischer Belastung betroffen. So kommt es, dass 9% der Schweizer Bevölkerung unter Depressionen leiden, während 15% Symptome mittlerer oder hoher psychischer Belastung aufweisen1. Diese Zahlen haben, zum einen im Rahmen der Covid-19 Pandemie, zum anderen als Folge eines stetigen Aufstiegs, einen neuen Höhepunkt erreicht. Doch wie hängt diese Gegebenheit mit dem Kapitalismus zusammen? Und warum war insbesondere in den letzten Jahrzehnten eine Verschlimmerung feststellbar?
Dieses Phänomen beschreibt Karl Marx als die «Entfremdung des Menschen»
Dass ein leistungs- und profitorientiertes System, wie der Kapitalismus eines ist, zu Stress und Druck bei den Akteurinnen führen kann, wirkt intuitiv nachvollziehbar. Da Gewinnmaximierung und Effizienz im Vordergrund stehen, kann nicht auf individuelle Bedürfnisse der Arbeiterinnen eingegangen werden. Wenn es jedoch darum geht, den Zusammenhang mit dem heutigen Zustand der psychischen Gesundheit der Arbeiter*innenklasse herzustellen, ist vor allem der Übergang zum neoliberalen Kapitalismus relevant. Die sogenannte «neoliberale Wende» ereignete sich grösstenteils in den 1970er Jahren. Mit dem Ziel, Profitraten von Grosskonzernen zu erhöhen, fand eine Deregulierung der Arbeitsmärkte, ein Abbau des Wohlfahrtsstaats und die Privatisierung zuvor staatlicher Unternehmen statt. Man wandte sich also vom kontrollierten Nachkriegskapitalismus ab und stieg auf einen flexibilisierten Finanzmarkt um2.
Diese Liberalisierung hatte eine Explosion des Dienstleistungssektors zur Folge. Der Grossteil der Bevölkerung, in Grossbritannien sind es aktuell 80%, beschäftigte sich also nicht mehr mit der Herstellung von Gütern, sondern mit dem Verkauf dieser und dem Anbieten von Dienstleistungen. Dies wiederum führte zu einer grossen Unzufriedenheit unter den Arbeiterinnen. Heute geben 55% der arbeitenden Britinnen an, dass sie am Arbeitsplatz regelmässig unter massivem Druck stehen. 40% empfinden ihren Job als nutzlos und sind der Ansicht, dass dieser keinen wichtigen Beitrag leistet. Beide Zahlen sind seit den 1970er Jahren enorm gestiegen3. Dieses Phänomen beschreibt Karl Marx als die «Entfremdung des Menschen». Er besagt, dass die Arbeiter*innen in einem kapitalistischen System keinen Bezug zum hergestellten Produkt mehr haben, was den Arbeitsprozess zunehmend unbefriedigend macht4.
«Unzufriedenheit, Leistungsdruck und Armut sind Folgen des neoliberalen Kapitalismus.»
Dies ist jedoch nicht die einzige negative Auswirkung des Neoliberalismus auf das Berufsleben. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes brachte nämlich auch die Notwendigkeit der Flexibilität der Arbeiter*innen mit sich. Folglich verbringen diese heute nur noch halb so viel Zeit an einer Arbeitsstelle wie in den letzten Jahrzehnten. Damit verbunden ist auch ein neuer Leistungs- und Optimierungsdruck, der früher in dieser Form nicht existierte5. Ausserdem brachte der neoliberale Wandel eine Vergrösserung der sozialen Ungleichheit mit sich. Während ein Rückgang der Mittelschicht zu beobachten war, leben nun mehr Menschen unter der Armutsgrenze. Zusätzlich wurde es schwieriger, ökonomisch aufzusteigen. Dies ist prekär, vor allem da der negative Effekt von Armut auf die psychische Gesundheit immer wieder belegt wird6.
Unzufriedenheit, Leistungsdruck und Armut sind Folgen des neoliberalen Kapitalismus, die sich negativ auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung auswirken. Und auch wenn wohl eine Reihe anderer Faktoren zum Anstieg von psychischen Erkrankungen beiträgt, muss auf die Verbindung zum Neoliberalismus aufmerksam gemacht werden. Denn psychische Erkrankungen sollten nicht länger zum Problem des Individuums gemacht werden. Sie gehören umfassend in die Politik aufgenommen und systematisch bekämpft.